Rolling Stone Magazin Feb 2018:
Ist das ein Wiegenlied, um ein Kind in der Schlaf zu bringen? Oder wird hier, bei all den unguten Geräuschen unter Melodie, eine erschreckliche Gespenstergeschichte gesungen, eine Moritat, die so tief in die Hirne und Träume der Hörenden kriecht, dass man sich aus ihrem Bann nicht mehr zu befreien vermag und auch nicht aus jenem Zwischenreich zwischen Wachen und Schlafen, in das sie führt?
In diesem Zwischenreich können wir nicht mehr ermessen, ob die Verheissungen, die uns hier gemacht werden, und das Grauen, das darunter dräut, zur hellen oder zur dunklen Seite des Lebens gehören, zur Wahrheit oder zur Märchen.
Es ist ein Zwischenreich, in dem jeder erwachsene Hörer wieder in den Zustand eines staunenden, sich fürchtenden Kindes fällt. Uns in diesen Zustand zurückzuversetzen, darin besteht die Kunst von Maja Ratkje.
Eine knappe Stunde dauert ihr Soloauftritt auf dem Avantgarde-Festival Madeiradig. So lange singt und erzählt, säuselt, zwitschert und droht Maja Ratkje mit ihrer schönen mal kräftigen, mal hinterlistig zärtlichen Stimme und bearbeitet sie mit einer Loop Station und andere elektronischen Geräten. Darum herum lässt sie dunkelbunte Klangbilder entstehen mit selbst gebastelten Geräten aller Art sowie mit Materialien und Gegenständen, die bisher noch nicht wussten, dass man mit ihnen auch Musik machen kann, zum Beispiel einer grossen, episch knisternden Zellophanfolie.
Anfang der Nullerjahre wurde die norwegische Sängerin und Komponistin mit ihrem Debütalbum «Voice», zur Pionierin jener elektroakustischen Stimmmodulation, die zehn Jahre später einer ganzen Generation von Künstlerinnen als musikalische Grundlage diente, von Julia Holter bis Holly Herndon, von Laurel Halo bis Grimes. Seither hat Ratkje in den verschiedensten Konstellationen Musik macht, als Teil des Duos Fe-mail veröffentlichte sie mit der Hornistin Hild Sofie Tafjord flotte Industrial-Platten, die etwa «Syklubb fra Hælvete» heissen, Nähklub aus der Hölle. Um nach eigenen Angaben anarchofeministischen Kollektiv SPUNK arbeiten die beiden wiederum an einer Neuerfindung der akademischen Konzeptmusik aus dem Geiste der Bücher von Astrid Lindgren.
Aber auch als Solokünstlerin ist Ratkje immer noch eine herausragende Erscheinung, wie man beim Madeiradig sehen konnte. Ihr Auftritt war fraglos der Höhepunkt des viertätigen Festivals (…)
-Jens Balzer