Stimme? Stimme! Stimme? Stimme! Stimme? Stimme! (DE)

Es zirpt, glubscht, piept, ächzt, quietscht, muht, surrt, rollt, balanciert dabei in wunderbaren Höhen oder wandert in unentdeckte Tiefen: Unglaublich. Wildes Fauchen verkantet sich in wütendes Schreien, pompös-irres Lachen wird zu luftiger Melodie, verfremdetes Schmatzen verwandelt sich schmauchend in ein leises Flüstern. Das kann keine Stimme sein- zumindest keine menschliche. Die zugehörigen Wahnsinns Stimmbänder gehören tatsächlich der Ausnahmekünstlerin Maja Solveig Kjelstrup Ratkje, die jedes noch so kleine Element ihrer Stimme an die Oberfläche befördert. Dass sie aus Fleisch und Blut besteht, beweist sie in hochsympathisch formulierten Emails. „I would love it“ antwortet sie beispielsweise auf die Frage, ob ich sie in meinem Stück an die Seite von klingenden Zahnbürsten stellen dürfe. Man hört sofort, dass ihre Kunst ihr Leben ist. Dieses Leben gestaltet sich als Abenteuer und die Norwegerin liebt es. Vielseitig ist es allemal, so wie ihre Stimme: Die ertönt mal als Belcanto-Linie, dann wieder als Geräusch oder mutiert in improvisatorisch verfremdete Prozesse. Dabei ist sie schönste Poesie, die mit all ihren möglichen Facetten und Nuancen Geschichten erzählt. Auf der Suche nach unerhörten Klängen schafft Maja Ratkje den Spagat zwischen zeitgenössischer Musik, Brecht, Free-Jazz, Klangexperiment, Deathmetal, Techno oder Kurt Weill. Sie will durch ihre Arbeiten die Aufmerksamkeit auf den Klang als bedeutungsvollen Ausdruck lenken.

Neben jeder Menge an internationalen Auftritten schafft es das Stimmwunder aber auch, eigene Kompositionen zu schreiben und damit international auf sich aufmerksam zu machen. Sie komponiert Musik für Film, Tanz und Theater und nennt ihre in Partituren festgehaltenen Kompositionen für Kammermusikensembles und Orchester „sheet music“. Die Musikerin ist außerdem Teil verschiedener Formationen, improvisiert oder organisiert… Maja Ratkjes Tag scheint mehr als 24 Stunden zu haben und wenn es sein muss, funktioniert sie Zugabteile oder Hotelzimmer kurzerhand in Kompositions-Arbeitszimmer um.

Der Einstieg in die Musikszene gelang der Komponistin über die Improvisation. Auch heute ist die ein wichtiger Aspekt ihrer Arbeit, bei dem „es darum geht, loszulassen und Ideen zu einem kollektiven Geist beizutragen, anstatt sie für sich zu behalten”, so Maja Ratkje. Während sich die freie Improvisationsszene in den späten Sechzigern völlig von Melodie und Rhythmus abwandte, arbeitet Maja heute aber wieder ganz selbstverständlich mit Elementen von Wiedererkennungswert: “Man kann sich von seinen Erinnerungen und Erfahrungen nicht befreien. Was wäre denn der Sinn davon? Aus den Erfahrungen neu zu kombinieren, finde ich interessanter.“

Unzählige Alben mit verschiedensten Ensembles hat sie bereits veröffentlicht. „River Mouth Echoes” ist eine Werkschau ihrer eigenen Kompositionen aus den vergangenen Jahren. Das Instrumentarium reicht von der Gambe über das Altsaxophon zum Kammerorchester, aber auch narrative Elemente treten auf. Maja Ratkje übersetzt Ohrenpiercings in musikalische Elemente, wechselt abrupt Klangfarben, lässt stehende Sinustöne plötzlich ganz zart werden. Die Musik verläuft nie linear und ist nicht leise, obwohl sie immer wieder Kraft aus der Stille schöpft. Die Künstlerin liebt es, Zuhörer mit Musik zu konfrontieren, die sie vorher nicht kannten oder mochten und sie neugierig darauf zu machen. Für das Album „Voice” erntete sie den “Ars Electronica Award Of Distinction”, eine Art Grammy der elektronischen Musik und nur einer ihrer zahlreichen Preise.

Maja Ratkje hat in ihrer schöpferischen Tätigkeit ein ungewöhnliches Vorbild: Pippi Langstrumpf. „Sie ist ein kleines Mädchen, das alleine lebt. Vollkommen anarchistisch, wenn es um Verhaltensregeln geht. Sie lässt sich von niemandem sagen, wann sie ins Bett zu gehen hat, wann und was sie essen soll. Tief drinnen ist sie ein Engel“. Die Heldin aus Astrid Lindgrens Kinderbüchern war auch Namensgeberin für Ratkjes Ensemble „SPUNK“. Zusammen mit den Freunden Annika und Thomas besucht Pippi einen Doktor. „Was fehlt dir denn?“. „Ich fürchte, dass ich Spunk habe, denn mich juckt es am ganzen Körper, und die Augen fallen mir vollständig zu wenn ich schlafe. Manchmal habe ich dann auch Schluckauf. Und am Sonntag ging es mir gar nicht gut, nachdem ich einen Teller Schuhcreme mit Milch gegessen hatte. Ich muss wohl Spunk bekommen haben. Sag mir nur eins: Ist es ansteckend?“ SPUNK ist für Klangbastlerin Ratkje eine gute Grundlage für freie Musik, die keinen Regeln und Abmachungen folgt, sondern neue Klangsprachen erforscht. Es ist ein Symbol für Anarchie und macht frei, um sich wie selbstverständlich in unterschiedlichen Musikgenren, Klangwelten und Stilen zu bewegen. Für Maja Ratkje bedeutet der Begriff aber auch das letzte Wort zu haben und sich selbst zu behaupten. Darüber hinaus impliziert es eine Menge Spaß am Unfug, den Maja Ratkje eindeutig hat. Dennoch sind ihre Werke nie seicht oder oberflächlich humoristisch. Vielmehr verfolgt sie ein musikalisch-anarchisches Konzept aus unberechenbarer Unruhe, um Regeln oder einengenden Konzepten zu entkommen.

„Musik muss stark sein“ sagt Ratkje, „weil sie der unmittelbaren und direkten Kommunikation dient, in ihrer eigenen Sprache. Dieser Zustand macht Musik verwundbar, aber auch gleichzeitig zum Träger großer poetischer Macht“.

Manuela Kerer, for the Transart programme book

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