Avantgarde-Musikerin Maja Ratkje Kratzen am Mainstream (DE)

taz.de 15.08.2008

VON SEBASTIAN REIER

Verwandelt Piercings in Klänge: Maja Ratkje. Foto: dpa

Das Leben einer Avantgarde-Komponistin verläuft in geordneten Bahnen: Morgens früh um fünfe aufstehen, einen Kübel kaltes, klares Wasser über den Nacken. Dann bis zum Mittag ran ans Pult, warme Mahlzeit, Nickerchen und ausgedehnter Nachmittagsspaziergang, die Hände auf dem Rücken. Schön wärs!

Stattdessen werden fast täglich Auftritte absolviert, in fünf verschiedenen Gruppen improvisiert, Klanginstallationen gebaut, Musik für Film, Tanz und Theater komponiert, Festivals organisiert, und schließlich sitzt die PR-Abteilung auch noch im eigenen Kopf. Schon sieht die Sache ein wenig anders aus: Meistens nämlich komponiert die norwegische Avantgarde-Musikerin Maja Solveig Kjelstrup Ratkje in cremefarbenen Hotelzimmern und schläft unterwegs im Zugabteil.

Ihre Antworten auf Interviewfragen trudeln nachts ein, gesendet von “irgendwo in Norwegen”, wo ihr die Zeit wegrennt wie der Sekundenzeiger. Denn sie komponiert und arrangiert gerade für ein Festival, das innerhalb von fünf Tagen Bühne für sieben neue Kompositionen bietet. Irgendwo in der Tundra sitzt die Musikerin also mit blutunterlaufenen Augen am Rechner und hofft, das Frühstück am nächsten Morgen nicht zu verpassen. Ob sie ihr Frühstücksbrötchen ähnlich abenteuerlich belegt, wie sie ihre Musik zusammenstellt, darüber kann nur gemutmaßt werden. Der Schlafmangel jedenfalls rührt von Ratkjes rastloser Suche nach unerhörten Klängen. Und die entstehen in Kombination. Weitläufig ist daher ihr Ansatz. In ihrer Heimat wird ohnehin ein wilder Stilmix zwischen Freejazz und Elektronik kultiviert. Seit dem Ölboom wird diese norwegische Katzenmusik sogar staatlich gefördert.

Doch Maja Ratkje treibt das Ganze auf die Spitze: Zwischen zeitgenössischer Klassik, Brecht, Deathmetal und Weill, dem interaktiven Abenteuer der Improvisation und der Geräuschmusik fliegt ihr Instrument umher: Die menschliche Stimme. Mal ertönt sie als Gesang, dann wieder als Geräusch oder Stimme im verfremdeten Prozess. Selbst wenn es nur noch piept und surrt – in ihrer Stimme lebt immer Poesie. Das trockene Geräusch, der karge Klang, kann erzählen.

Zusammen mit dem Noisemusiker John Hegre nahm sie ein bemerkenswertes Album voller Balladen auf. Ohne Schmalz und vordergründige Melodie. Eher klingt diese Musik wie ein morsches Schiff, das verlassen im Wind quietscht. Ratkje tummelt sich darin im Randbereich der Sounds, die sie aber als Idee von Balladen spielt. Schlicht und ohne Pathos. Ihr Ansatz ist der einer Avantgarde, die am Mainstream kratzt und ihn gleichzeitig mitreflektiert. Werden hier Brücken gebaut zwischen Kunst und Populismus? “Ich sehe meine Musik nicht als schwierig an, nur weil sie mehrdimensional ist”, schreibt Ratkje in einer E-Mail. “Ich will aber die Aufmerksamkeit auf den Klang als bedeutungsvollen Ausdruck lenken. Alle, die Ohren haben, können dies hören und sich ihre eigene Meinung bilden”, so Maja Ratkje.

Auf diese Weise kann auch der morgendliche Wecker zur Musik werden. Die Balance zwischen Lakonie und Manifest muss gehalten werden, weder albern noch verkrampft. Sich selbst zu limitieren geht schon gar nicht. Auf diese Weise wird die Freiheit der Avantgarde vordergründig. Veränderung und Vielschichtigkeit sind hier ebenso kontrovers wie in der Volksmusik. Purismus ist Trumpf. Ratkje hält es da lieber mit einer skandinavischen Kinderbuchheldin: “Niemand ist besser als Pippi Langstrumpf. Sie ist ein kleines Mädchen, dass alleine lebt. Vollkommen anarchistisch, wenn es um Verhaltensregeln geht, lässt sie sich von niemandem sagen, wann sie ins Bett zu gehen hat, wann und was sie essen soll. Tief drinnen ist sie ein Engel”, sagt Maja Ratkje. Die Langstrumpf war auch Namensgeberin für Ratkjes Ensemble SPUNK: “In einem Buch stolpert Pippi über dieses Wort und wundert sich, was es wohl bedeutet. Also geht sie los, um es herauszufinden.” Im Wort SPUNK sieht Ratkje auch eine gute Grundlage für freie Musik, die keinen Regeln und Abmachungen folgt, sondern neue Klangsprachen erforscht. SPUNK-Konzerte sind sehr performativ: Alltagsgegenstände werden dabei zu Instrumenten umfunktioniert. Für Ratkje hat das weniger mit dem Drang zum Spektakulären zu tun, als mit der schlichten Suche nach Unerhörtem.

Eigentlich interessierte sich Maja Ratkje mehr für Naturwissenschaften, Religion und Umweltpolitik als für Musik. Die Umwälzung zur Musikerin fand erst mit 19 statt, als sie das erste Mal E-Musik-Werke von Karlheinz Stockhausen und Arne Nordheim hörte. Sie zog nach Oslo und bewarb sich an der Musikakademie. Zuvor hatte sie noch nie einen “lebendigen Komponisten” gesehen. Der Einstieg in die Musikszene gelang Maja Ratkje über das Improvisieren.

Auch heute ist die freie Zusammenarbeit auf der Bühne ein Aspekt ihrer Arbeit, ohne den ihr kompositorischer Alltag undenkbar scheint: “Da geht es darum, loszulassen und Ideen zu einem kollektiven Geist beizutragen, anstatt sie für sich zu behalten”, erklärt Maja Ratkje. Während sich die Philosophie der freien Improvisation in den späten Sechzigern völlig von Melodie und Rhythmus verabschiedet hatte, arbeitet Ratkje heute aber wieder ganz selbstverständlich mit Elementen von Wiedererkennungswert: “Man kann sich von seinen Erinnerungen und Erfahrungen nicht befreien. Was wäre denn der Sinn davon? Aus den Erfahrungen neu zu kombinieren, finde ich interessanter. Mit SPUNK zitieren wir zwar nicht, doch Melodien und Texturen sind deutlich erkennbar. Manchmal klingt es wie Weltmusik von einem Ort, der nicht existiert. Ein andermal klingt es, als würde ein Jazz-Standard auseinandergenommen”, sagt sie.

Bereits auf dem 1999 erschienenen Debütalbum von SPUNK alle Versatzstücke in dieser Klangwelt zusammen.

Selbst die Aufnahme wurde Teil der Musik: “Normalerweise versuchen wir, den Moment der Aufnahme unsichtbar zu machen, damit wir uns voll und ganz auf die Musik konzentrieren können. Doch jede Aufnahme ist gleichzeitig ein Filter, eine Interpretation von Musik. Dieser Filter kann ja auch ein offensichtlicher Teil der Musik sein. Wenn man hört, wo sie entstanden ist, wenn der Minidisk-Player piept – wird der Klang zur Musik”, sagt Maja Ratkje. Dann entsteht auch Musik von ungeheurer Dynamik.

Besonders deutlich ist dies ihrem Album “Voice” anzuhören, dass sie 2002 in Co-Produktion mit dem norwegischen Krachduo Jazzkammer veröffentlicht hat. Für “Voice” erntete sie gar den “Ars Electronica Award Of Distinction”, eine Art Grammy der elektronischen Musik. Noisemusik? Nicht ganz: “Noise ist eine positive Energie, auch wenn er sich dunkler Kräfte bedient. Seine Direktheit geht ohne Umwege in mein Herz. Noise zu spielen oder ihm zuzuhören, bedeutet, dass alle dunklen Farben von strahlendem Weiß überdeckt werden. Eine mächtige weiße Wand, die vor allen Frustrationen und Durchhängern schützt.” Mitten aus dem Lärm kommt ihre warme Stimme. Aber keineswegs will sie sich als Vokalistin bezeichnet wissen. Eher als Komponistin, die selbst die Bühne betritt, mit ihrer Stimme als Hauptinstrument.

Unzählige Alben hat sie als Improvisatorin und Klangbastlerin bereits veröffentlicht. Mit 34 gibt sie jetzt auch ihre erste Werkschau als Komponistin heraus. Sie erscheint auf Tzadik Records, dem Label des mit Ratkje befreundeten New Yorker Avantgarde-Jazz-Magnaten John Zorn. “River Mouth Echoes” versammelt Kompositionen aus den vergangenen zehn Jahren. Ratkje bedient sich dabei eines Instrumentariums, das von der Gambe über das Altsaxofon zum Kammerorchester reicht. Mehrere Schichten darunter tun sich auch erzählerische Elemente auf. Abrupte Wechsel der Klangfarbe bleiben erhalten. Ereignisse, wie harscher Klang und Seichtigkeit, finden meist gleichzeitig statt. So transformiert die Musikerin Ohrenpiercing der japanischen Noise-Tradition in den Orchesterklang, lässt stehende Sinustöne plötzlich ganz zart werden: Die Maschine wird zu einem Körper, und umgekehrt. Zeit spielt keine Rolle, denn ihre Musik verläuft nicht linear. Kraft wird aus der Stille geschöpft. Maja Solveig Kjelstrup Ratkjes Musik ist nicht leise, sie hat klare scharfe Kanten und verschwimmt in Eindrücken. Kontexte verschieben, Ohren freispülen – die Künstlerin liebt es, Zuhörer mit Musik zu konfrontieren, die sie vorher nicht kannten oder mochten. “Neugierige Menschen sind auf mehr als nur einem Gebiet neugierig”, nennt sie das.

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