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Knapp zwei Jahre ist es her, dass mein Blick in den so üppig ausgestatteten CD-Regalen eines Plattenladens zwischen all den Reihen schrill-bunter CD-Cover auf ein aus dem Rahmen fallendes Motiv fiel. Es zeigte ein grobkörniges Frauenportrait in schwarz-weiß: Das Haar seitlich zum Zopf geflochtenem, die Augen geschlossen. Eine Fotografie wie aus den 1920er Jahren. Voice hieß diese Scheibe, dem kleinen Sticker nach das Solo-Debüt einer gewissen Maja Ratkje aus der Norwegischen Band Spunk. Ich habe sie ohne Hörprobe gekauft und bis heute niemals bereut. Denn Voice ist vor allem zeitlos, ein wahrhaft sinnliches Dokument einer außergewöhnlichen Stimme, wie eine transformierte Reflexion, so situationistisch entstanden wie nur möglich.
Am besten aber beginnt man eine kurze Charakteristik dieser 1973 in Trondheim geborenen Norwegischen Komponistin, Vokalistin und Elektronikerin Maja Solveig Kjelstrup Ratkje mit einem Zitat aus Astrid Lindgrens Kinderbuch Pippi Langstrumpf. Im Kapitel Pippi und der Spunk besucht Fräulein Langstrumpf zusammen mit den Freunden Annika und Thomas einen Doktor. »Was fehlt dir denn?«, fragt dieser. »Ich fürchte, dass ich Spunk habe«, erzählt Pippi aufgeregt, »denn mich juckt es am ganzen Körper, und die Augen fallen mir vollständig zu wenn ich schlafe. Manchmal habe ich dann auch Schluckauf. Und am Sonntag ging es mir gar nicht gut, nachdem ich einen Teller Schuhcreme mit Milch gegessen hatte. Ich muss wohl Spunk bekommen haben. Sag mir nur eins: Ist es ansteckend«?
Für Maja Ratkje steht der Begriff »Spunk« als Symbol für Anarchie, für die Freiheit sich selbstbewusst in den unterschiedlichsten Metiers, Klangwelten und Stilen zu bewegen. Ob Free-Jazz, Improvisation, Techno, Klangexperiment, Noise, akustische oder elektronische Musik, Theater- oder Filmmusik oder »sheet music«, wie sie ihre in Partituren festgehaltenen Kompositionen für Kammermusikensembles und Orchester nennt, – immer ist es der unbedingte Wille sich auszudrücken, zu kommunizieren, der eine starke, präsente Musik und hohe Authentizität erzeugt. Für Maja Ratkje bedeutet »Spunk« auch das letzte Wort haben, sich selbst behaupten und darüber hinaus eine Menge Spass am Unfug. In diesem Sinne verfolgt sie ein musikalisch-anarchisches Konzept aus unberechenbarer Unruhe, um allen einengenden Vorgaben samt Regeln zu entkommen, und um – nicht nur musikalisch – den Konformitätszwang der pseudo-modernen Umgebung zu sprengen.
Ein Spunk in Kreuzberg
Eine der Spielwiesen, auf denen sie dies realisiert, ist das norwegische Quartett SPUNK mit dem sie vor einigen Monaten das Album En Aldeles Forferdelig Sykdom auf den Markt gebracht hat. En Aldeles Forferdelig Sykdom bedeutet soviel wie Eine absolut furchtbare Krankheit. Wilde, rastlose Stimmungen werden mittels klassischem Instrumentarium in frei improvisierte Geräuschfetzen übersetzt, denn: »….they have no fear bringing music to anarchy«. Man kann dort erstaunt feststellen, wie unterschiedlichste Realitätsebenen übereinander liegen. Denn auch ohne Krach- und Noise-Assoziation springen die Trompetentöne so elegant wie ein Zebra über das Brummeln des Cellos hinweg. Die Striche auf den Saiten der Bratsche quietschen so breitbeinig auseinander wie die Giraffe beim Trinken. Dann, gleich hinter den böigen Prisen aus Tafjords Waldhorn im Song Twinkle Wrinkle, windet sich eine leicht schläfrig machende, aber gleichsam vitalisierende Melodie in den Vordergrund, so als hätte Beatle John mit Schwester Yoko Ono den Part II für seine Klang-Collage Revolution No 9 auf Seite 4 des White Album begonnen.
Fe-Mail: Blixter Toad
Im Duo mit Hild Sofie Tafjord stellt uns Maja Ratkje das im feministischen Kontext arbeitende Projekt Fe-Mail vor, das 2004 in der Sonic Arts Lounge des MaerzMusik-Festivals in Berlin auftrat. Die etwas hölzerne Formulierung ihres Labels Asphodel einer »taxonomischen Kennzeichnung der feministischen Überzeugung durch technische Spielereien in akustische Archäologie zu verwandeln« trifft hier ausnahmsweise mal zu. In Blixter Toad (dem neuesten Album von Fe-Mail) werden Techno- Noise- und Elektronikbezüge als Vorlage genutzt. Jedoch variieren Material und Intentionen der Fe-Mail Alben stark: Zum einen explodieren die von hektischen Beats getriebenen Noise-Kaskaden links und rechts wie eine vom Leoparden aufgescheuchte Antilopenherde auseinander, zum anderen fliessen die ambienten Kuster wie geloopte Elektroschnitzel sanft im Gameboy Debüt All Men Are Pigs zueinander. Das elektrostatische Rauschen von Valkyrie Procession, der A-Seite der Vinyl-EP Voluptuous Vultures lässt sich sehr gut in der Umdrehungsgeschwindigkeit von 33rpm sowie 45rpm abspielen. Digital gefiltertes Noise-Gewitter, mit Voice-Samples gefüttert, werden weitab in die elektrostatische Umlaufbahn geschleudert.
Ratkje – Jazzkamer: Ballads
Voluptuous Vulture entstand übrigens in Zusammenarbeit mit Lasse Marhaug, dem »Noise-Designer« und der einer Hälfte der Elektro-Minimalisten Jazzkammer. Mit ihm verbindet Ratkje eine langjährige Freundschaft. Mit dem Multiinstrumentalisten John Hegre, der zweiten Hälfte bei Jazzkammer, oder nun auch Jazzkamer, hat Maja Ratkje vor kurzer Zeit das sehr stimmungsvolle Album Ballads erarbeitet. Durch semi-akustische Improvisation wurden über die letzten beiden Jahre hinweg die minimalistische Klangcollagen von Ballads gesammelt. Sachte angetupft werden Songs wie Autumn Leaves oder Hammock Moods nicht die Belastbarkeit der Nerverstränge des Hörers auf die Probe stellen. John Hegres sehr reduziert gezupfte Gitarrensprenkel gestalten die ideale Grundlage hier für Ratkjes melodischen Gesangstil. Auch für den geliehenen und zum Instrument umfunktionierten Brotkasten sei Kollege Jon Halvor gedankt. John Hegre schabt sein Plektrum langsam über die Saiten der Gitarre, ein Knirschen und Knacken ist zu hören (in Private Matter), dann erhebt sich ein elektronisches Fiepsen, das wie Heuschreckenandroiden summend auf den Sinuswellen reitend von elektrischen Weizenhalmen träumt. »Musik muss stark sein…«, sagt Ratkje, »…weil sie der unmittelbaren und direkten Kommunikation dient, in ihrer eigenen Sprache. Dieser Zustand macht Musik verwundbar, aber auch gleichzeitig zum Träger großer poetischer Macht«. Vers-Kommunikation in digitalisierter Form – ein Konzept, das Ratkje in unzähligen Kollaborationen mit Musiker/innen, Tänzerinnen etc realisiert.
Stimme
Ihr Debut Voice – die eigene Stimme – ist und bleibt aber Maja Ratkjes wichtigstes Instrument. Wie bei ihrem großen Idol, der Peruanischen Sängerin Yma Zumac mit einem Stimmvolumen von fast 5 Oktaven, befördert die Norwegerin jedes kleinste Detail an Variation an die Oberfläche. 2004 war Ratkje mit einer Live-Performance von Voice erstmalig zu Gast bei der Transmediale in Berlin. Ein wildes Fauchen verkantet sich hier in wütendes Schreien, ein pompös-irres Lachen wird zur luftigen Melodie, ein durch Echo verfremdetes Schmatzen verwandelt sich schmauchend in ein leises Flüstern. Voice ist mit digitalem Dat-Recorder aufgenommen, an Orten wie einem Fahrstuhl, auf Hausdächern, im Parkhaus, Kellerraum und dem Emmanuel Vigeland Mausoleum in Oslo.
Voice ist zu einer Feuertaufe und Parade für Maja Ratkje gleichsam geworden, und in der Tradition der aus San Diego stammenden griechischen Sängerin und Poetin Diamanda Galas beweist die heute 33jährige Maja Ratkje, wie allumfassend und akustisch farbintensiv Stimmmodulation sein kann. Denn »wer nur auf Andere hört…«, würde Pippi Langstrumpf wohl dazu sagen, »…kann so niemals Postobermeister werden«. 2001 erhielt Maja Solveig Kielstrup Ratkje als erste Komponistin überhaupt den Arne Nordheim Distinction Award und 2003 für Voice die Auszeichnung des Prix Ars Electronica.
— text: peter kaemmerer 11 Sep 06